Teil Eins 1980-1982
Vom Verlassen der Komfort-Zone

Für ein Abitur musst du raus aus dem Wohnviertel mit der Polytechnischen und auf die Erweiterte Oberschule. 
Also geht es jetzt durch die ganze Stadt. Am Ziel herrscht bereits Alarmstufe Gelb. Zum Glück kein Rot, weil Bea mit mir in die 9a kommt. Bea ist viel besser, wenn es um neue Regeln geht. Oder sie ist besser darin sich nicht anmerken zu lassen, dass sie auch eine Alarmstufe hat. Jedenfalls gibt sie gerade mit ihren Disconächten im Ferienlager an, während meinen Sommer und alles, was davor passiert ist, die Unwichtigkeit wegschlürft. Von geradezu überwältigender Wichtigkeit sind nämlich die kommenden Ereignisse. Neue Schule, neue Leute, neuer Alltag. Das konnte man ja spannend finden, wenn sonst nicht viel los war, aber ich hatte es draußen gern sortiert. Für Spannung war Drinnen zuständig. 
Draußen stiegen wir nach einer knappen Stunde aus der Klappertram aus. Auf der anderen Straßenseite stand die EOS „Juri Gagarin“, aber man kam kaum rüber, ein Aufstand wie im Wimmelbild. 
Wir erreichten den Schulhof zwischen zwei mächtigen Gebäudeklötzen aus den dreißiger Jahren gerade noch rechtzeitig zum Morgenappell. Nachdem die sozialistische Marschrichtung geklärt war, wurden die Neuen eingeteilt. Bea kam gleich am Anfang. Sie schlenderte oberlässig zur 9a, und sprach dort, ohne einen einzigen Blick für mich übrig zu haben, unverzüglich ein Mädchen an. 
Grimmig guckte ich ihr zu und wartete auf meinen Namen, die konnte was erleben, wenn ich da ankam, aber die 9a war fertig und verschwand ganz ohne mich im Schulgebäude. 
Überraschungen überforderten mich generell und Realitätsschock war die schlimmste Art von Überraschung. Bei einer so spitzenmäßigen Vorstellerin wie mir waren die Vorstellungen immer praktisch schon Realität und man brauchte drinnen viel Energie, um das alles wieder von der Wirklichkeit abzukratzen. Da blieb nicht mehr viel für das, was währenddessen draußen passierte. Zum Beispiel, mein Name fiel. 
Ich lief los Richtung 9s und guckte angemessen neugierig. Die Klassenlehrerin kommandierte uns in den Fachraum Sprachen. Kaum saßen wir, begann sie mit ihrer Rede zu den nächsten vier Jahren. Wie anders die werden, ganz straffes Programm, Abitur kein Spaziergang, sozialistische Elite erst recht nicht, harte Arbeit, ganz harte Arbeit, aber auch Hoffnung, den Erwartungen gerecht zu werden und später dann Aufbruch zum Studium der Sprachmittlerinnen, Fremdsprachenkorrespondentinnen und Russischlehrerinnen. Freundschaft! Wegtreten zum Frühstück!
Ich ging zu der Kommandantin und fragte, wie das denn mit Medizinanwärterinnen in ihrer nagelneuen 9 „s“ für „Sprachen“ aussehe.
„Haben wir hier nicht“, entschied sie.
„Doch“, widersprach ich. 
Sie sah mich an, als hätte ich ihr gerade eine Handgranate in den Keller geworfen. 
„Komm mal mit!“
Die Direktorin war nicht da und die Kommandantin jetzt höchstgenervt, weil sie mich nicht loswurde. Sie zeigte auf einen Stuhl, sah mich an und befahl: „Du wartest hier!“
Dann drehte sie sich so sehr um, dass ich wusste, wir dürfen uns nie wiedersehen. 
...

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